Unter dem Titel „Genug gestreamt“ eröffnet der Intendant Magnus Reitschuster am 4. Juni 2020 das „Festival der Abstände“ im Apollo Theater Siegen, das bis zum 11. Juli 2020 andauert.
Lesen Sie hier sein leidenschaftliches Plädoyer für ein Theater, das live stattfindet. Denn das ist das Theater, für das wir brennen!

Genug gestreamt, verehrtes Publikum. Jetzt fängt das Theater- und Konzertleben wieder an. Der Politik sei Dank. Menschen spielen für Menschen im öffentlichen Raum dieses Theaters. Es gilt der Kunst, aber nicht nur das: Wir können gemeinsam erproben, wie das Leben aussehen kann, bis der befreiende, seligmachende Impfstoff in uns ist. Wie kriegen wir sie hin, die Corona-Life-Balance unter dem Damoklesschwert der zweiten Welle? Wie die Leichtigkeit des Seins hinter der atembehindernden, brillenbeschlagenden Schutzmaske? Wo findet sich die neue Mitte zwischen dem „Anything goes“ vor und dem „Rien-ne-va-plus“ während der Pandemie? Wo zwischen Raverpartys mit Übertragungsgarantie bei den einen und lähmenden Angstzuständen bei den andern?
In einer Abhandlung schreibt Adorno über den bürgerlichen Helden Odysseus, dass er sich tot stelle, um am Leben zu bleiben. Das Rezept ist in den letzten Monaten aufgegangen, nun kommt es an seine Grenzen. Freiheit als bloße Einsicht in die Notwendigkeit, gesellschaftlicher Selbstmord aus Angst vor der Todesrate. Fragezeichen.
Wir stehen gesellschaftlich vor einer Quadratur des Kreises. Das spiegelt sich in unserem unmöglichen Untertitel „Festival der Abstände“. Dieses wurde innerhalb von drei Wochen auf die Beine gestellt, mit fünf Tagen Vorverkauf, ohne Zeit für Kommunikation gegenüber einer atomisierten Öffentlichkeit, die im Moment noch nicht glauben kann, dass diese Vorstellungen nicht im Netz stattfinden.
Dieser erste Abend setzt ganz auf das Wort, auf das Nachdenken der Vordenker. Abstandwahrend geht es um Nähe, um „Berührung“. Apollinisch also ist der Neubeginn in diesem Apollo-Theater, das Dionysische mit Schweiß und Tränen, Küssen und Schlägen, Spucke und Sperma, Kampf und Körperlichkeit muss draußen bleiben. Noch!
Schön, dass Sie da sind, lieber Herr Kermani, verehrter Herr Leggewie, um uns bei diesen ersten geistigen Gehversuchen im Raum der Kultur behilflich zu sein. Die Möglichkeit zum Gespräch gibt es im Anschluss unter dem Titel „Miteinander reden im öffentlichen Raum“.
In der Reihe „Ausnahmezustand“, die Navid Kermani speziell für dieses Festival in seiner Geburtsstadt konzipiert hat, erleben wir fünfmal den Dichter und den Denker im intellektuellen Doppelpass. Dabei handelt es sich nicht um Geisterspiele. Denn Sie sind ja da, verehrtes Publikum. Wir haben Euch so vermisst! Wir sollten uns in nächster Zeit wieder öfter sehen. Ohne Sie ist nämlich alles nichts.
Als sich dieses Theater in der ersten Schockwelle nach den Iden des März 2020 dem „Streaming“ verweigerte, tauchte Kritik auf. Warum würden wir nicht wenigstens eine „Notversorgung“ für unser Publikum in Gang setzen? Weil, so meine Antwort, unser Publikum nicht streamen will. Und das ist auch gut so. Und weil, so meine Überzeugung, der virtuellen Raum für das Theater- und Konzertleben eine reale Sackgasse ist. Um dem Vorwurf der Rückschrittlichkeit zu begegnen, folgender biographische Hinweis: Meine erste digitale Liebe war ein Commodore 128 aus dem Jahr 1987.
Unser Notprogramm waren Hölderlin und Bloch. Die Zitate „Die Hoffnung ist ins Gelingen verliebt“ und „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ prangten in haptischer Stofflichkeit auf unserer Fassade. Wie leer wäre unsere leere Stadt in all den Wochen gewesen ohne diese großformatigen Dichter-Worte, die auch fleißig fotografiert, geposted und geliked wurden. So kursierten schließlich im Netz Selfies mit Friedrich Hölderlin und Ernst Bloch. Man kann das Dialektik nennen oder List der Geschichte. Mein schönstes Erlebnis in den Zeiten der Pandemie aber war, als ein noch älterer alter Mann als ich das Hölderlin-Zitat mit einem Stift auf eine papierene Seite abschrieb und getrost mit sich nach Hause trug.
Seltsam schien mir, dass in diesen zweieinhalb Monaten die über 60-Jährigen nur noch als Risikogruppe erschienen, als Betreuungsbedürftige. Die Mehrheit von uns, sehr geehrte Damen und Herren von der Ü-60-Fraktion, kam gar nicht mehr vor. „Ich streame, also bin ich“ verkündete der Main-Stream. Und wer nicht streamt, existiert nicht, so der implizite Umkehrschluss. Um nicht missverstanden zu werden: Ich fand es gut und richtig, dass das Kulturbüro des Kreises Siegen-Wittgenstein auf seiner Bühne den Musikern und Künstlern der Region eine virtuelle Bühne bot und das Bruchwerk-Theater Eigensinniges in den regionalen Äther rauschen ließ. Die Essenz von Theater aber ist und bleibt: Menschen spielen für Menschen in einem gemeinsamen Raum.
Schön, dass Sie alle da sind. Das Theater öffnet. Öffnen Sie mit.

Info: Das Theater in Kempten startet am 12. Juli mit Die kleine Schusselhexe wieder Live-Theater auf der Großen Bühne. Die drei Nachmittagsvorstellungen sind nach der jetzigen gesetzlichen Kapazitätsgrenze mit je 100 Besuchern im Stadttheater bereits ausverkauft. Vielleicht bewegt sich bis dahin aber noch was …
Am 1. August beginnt der Vorverkauf für die neue Saison an der Theaterkasse im Stadttheater. Die Saisoneröffnung wird die Uraufführung von No Planet B am Donnerstag, 17. September, 20 Uhr, sein. Unsere Eigenproduktion aus der Feder von Nick Wood unter der Regie von Silvia Armbruster.