oder im Interview mit Schauspieler Philipp Brammer über
DIE VIELFALT DER MÖGLICHKEITEN

Von Hans Piesbergen
Ein Norddeutscher studiert Regie in Wien, wird durch Zufall Schauspieler am Burgtheater, anschließend Barmann und Gründer der ALL AUSTRIAN AIRGUITAR ASSOCIATION, kehrt zurück zum Theater und spielt Schillers DON KARLOS, obwohl er dafür absolut atypisch ist, spielt und inszeniert am Theater Hof, obwohl er zum verabredeten Vorstellungsgespräch drei Stunden zu spät kommt, und kandidiert für den Bayerischen Landtag.
Gut möglich, dass wir ihm noch als Shakespeares Macbeth oder im Deutschen Bundestag wieder begegnen.
Schauspieler oder Barmann? Regisseur oder Politiker? Luftgeist oder Golfspieler? Stade oder Hildesheim? Wien oder Hof? Oder doch Kempten?
Wer mit Philipp Brammer spricht, sollte sich von linearen Karrierevorstellungen („Vom Tellerwäscher zum Präsidenten“) ganz schnell verabschieden. Ganz einfach, weil das Gespräch vielschichtiger verläuft, eine Reihe von parallelen Lebenswelten eröffnet.
Das Gespräch geht über mehrere Stunden begleitet von mehreren Gläsern – Wasser.
Seit einer Woche probt Philipp Brammer in Kempten für das Schauspiel ARIZONA des spanischen Gegenwartsautors Juan Carlos Rubio, das am 10. Oktober seine deutschsprachige Erstaufführung in der Theaterwerkstatt des Theater in Kempten (T:K) haben wird.

Philipp Brammer, 43 Jahre alt, geboren in – äh – Hildesheim? Oder in Stade?
„Ich lüge nicht bei meinem Alter, aber bei meinem Geburtsort. Denn in Stade bin ich aufgewachsen. An Hildesheim erinnere ich mich nicht.“
Also ich persönlich verstehe Philipp Brammer sehr gut. Ist ein Kind, das im Krankenhaus in Kempten auf die Welt gekommen ist, unmittelbar danach aber in Betzigau aufwächst, ein*e Kemptener*in oder vielleicht doch ein*e Betzigauer*in?
Die längste Zeit seines Lebens hat Philipp übrigens dann in Wien verbracht und so bezeichnet er Wien als seine Heimat.
Nach dem Abitur überlegt Philipp Brammer: Theater ja, aber Schauspieler? Das traut er sich nicht zu. Was genau macht denn eigentlich ein Regisseur, fragt er an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin nach. Die geben keine Antwort, schicken aber einen aufwändigen Bewerbungsbogen. Anders das Max-Reinhardt-Seminar in Wien, dort geht es bei der Aufnahmeprüfung sehr pragmatisch zu – und Philipp wird aufgenommen. Er studiert Regie bei den Regisseuren Achim Benning und Luc Bondy.
„Sie waren sehr unterschiedlich. Vor allem ihre Präsenz. Benning war für uns Student*innen da, Bondy eigentlich nie. Aber dennoch haben mich beide geprägt.“
Benning und Bondy waren Vertreter eines erzählenden Theaters: linear, nachvollziehbar, mit genauen Situationen und Figuren, die bis ins letzte Detail ausgearbeitet waren. Der Dekonstruktivismus, die Performance waren ihre Sache nicht.
Bondy mag vielleicht als Lehrer wenig präsent gewesen sein, aber er macht Philipp Brammer zu seinem zweiten Assistenten bei FIGARO LÄSST SICH SCHEIDEN von Horvath, einer Koproduktion der Wiener Festwochen mit dem Theater in der Josefstadt.
„Es wurden drei komplette Bühnenbilder gebaut. Eines für die riesige Probebühne, eines für das Theater an der Wien (Festspielhaus) mit seiner noch größeren Bühne und eines für die recht kleine Bühne des Theaters in der Josefstadt.“
Sogenannte Synergieeffekte einer Kooperation…
Als Assistent bei BELGRADER TRILOGIE von Bljana Srbljynovic im Wiener Rabenhoftheater soll er auf Wunsch der Regisseurin Tina Lanik bitte auch eine kleine Rolle spielen – und steht dann den ganzen Abend auf der Bühne. Anschließend fangen ihn zwei Herren vor dem Theater ab und beknien ihn, er solle Schauspieler werden: der über achzigjährige Kurt Hübner, ehemaliger Intendant der Berliner Freien Volksbühne, und – Luc Bondy.
Und ehe Philipp sich versieht, hat er einen Vertrag am Burgtheater in der Tasche und spielt in Bondys legendärer Inszenierung von Tschechows DIE MÖWE mitten unter der ersten Garde deutschsprachiger Schauspieler: Jutta Lampe, Gert Voss, Ignaz Kirchner, Johanna Wokalek, August Diehl u.a. Die Produktion wird beim Berliner Theatertreffen gezeigt, im Pariser L’Odeon, im Moskauer MCHAT, im Kings Theatre beim Edinburgh Festival.
„Das war das größte Theater, in dem ich je gespielt habe, 1600 Plätze, aber kein Balkon, 50 Reihen Parkett. Ich dachte, das ist ja akustisch nicht zu schaffen, aber dann habe ich mich nach hinten gesetzt und den Kollegen zugehört und siehe da, eine phantastische Akustik! Man hat alles gehört, nur gesehen hat man auf die Entfernung wenig.“
England eben, die Wiege des „auditiven Theaters“.
„Mit dem Burgtheater auf Gastspielreise musst Du gar nichts machen, Du darfst nicht mal das Bier im Ausland bezahlen, sofort kommt ein Assistent und übernimmt das für Dich. Aber auch beim Gastspiel mit BELGRADER TRILOGIE in Belgrad mit dem viel kleineren Rabenhoftheater durfte ich nie bezahlen, denn dort waren wir nach dem Krieg die ersten Ausländer und wurden sofort in jedem Lokal auf die erste Runde eingeladen. Als ich dann am letzten Abend wenigstens unsere Autorin Bljana Srblanovic zum Dank einladen wollte, hat sie mir eine Ohrfeige verpasst und für alle bezahlt. Serbische Gastfreundschaft eben. Dabei geht sie mir gerade mal bis zur Brust.“

Wie auch immer, nach zwei Jahren Burgtheater ist erst mal Schluss. Ab jetzt ist Philipp Barmann in einer illustren Wiener Kneipe. Und er gründet mit Freunden die ALL AUSTRIAN AIRGUITAR ASSOCIATION (AAAA). Es werden Luftgitarre-Wettbewerbe in Österreich ausgerichtet als offizieller Lizenznehmer der jährlich in Finnland stattfindenden Weltmeisterschaften. War Philipp so gut mit der Luftgitarre?
„Nein, ich habe moderiert, weil ich der einzige war, der sich getraut hat, sich mit dem Mikro hinzustellen und die Leute zu unterhalten. Wir haben das auch entsprechend in die Moderation eingebaut und gesagt, ich sei Kinderstar gewesen, sei aber dadurch inzwischen so zerrüttet, dass mir mein Therapeut nur noch das Moderieren dieser Veranstaltungen erlaube, allenfalls dürfe ich noch Luftbass spielen.“
Luftbass? Egal, es gab danach eine super Luftbass-Nummer.
Und der Weg zurück zum Theater?
„Ach, eine Kommilitonin aus dem Reinhardt-Seminar war inzwischen Dramaturgin am Landestheater St. Pölten, denen fehlte jemand und da hat sie mich vorgeschlagen.“
In St. Pölten traf er dann auf Silvia Armbruster, die heutige künstlerische Leiterin des T:K. Sie besetzte ihn als Schillers DON KARLOS. Das war 2011.
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch, dass er die Generalprobe ansehen wollte und Silvia Armbruster vorher zu ihm sagte, sie habe einen tollen Hauptdarsteller, aber er sei gar nicht der klassische Typ. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ich die Besetzung unmöglich fände. Aber das genaue Gegenteil trat ein; ich war fasziniert von diesem KARLOS, von der Kraft, dem inneren Engagement der Figur. Da stand plötzlich ein politischer Mensch auf der Bühne, viel politischer als sein Freund Posa oder der Vater Phillip II. KARLOS und Elisabeth waren die Außenseiter in dieser Gesellschaft und das hat sie so an einander geschweißt. Die Aufführung ist mir noch nach acht Jahren sehr präsent, vor allem wegen Philipp Brammer.
Nächste Station: Hof.
„Ich wusste nicht genau, wo Hof liegt und hatte die Entfernung völlig falsch eingeschätzt. So kam es, dass ich zum Vorsprechen mehr als drei Stunden zu spät kam. Immer wieder unterwegs die Anrufe: Wo bleiben Sie? Ich bin jetzt da und da, ich komme. Usw. Dann habe ich mich mit dem Intendanten unterhalten und, als ich aus dem Büro ging, hatte ich einen Vertrag in der Tasche.“

Langsam werde ich auf die Umstände, die zu Philipps Engagements führen, etwas neidisch…
Letzte Volte in der Erzählung:
„Ja, und dann habe ich bei den letzten Wahlen für den Bayerischen Landtag kandidiert.“
Was nun folgt, ist ein langes Gespräch über Politik, ein Gespräch, das noch weit interessanter ist, als alles, was wir über das Theater gesprochen haben, aber auch ein Gespräch über die vielen Wege und Umwege, die Möglichkeiten eines Lebens, die Widersprüche, Reibungsflächen.
„Ein Lehrer am Reinhardt-Seminar, er hatte sonst gar keinen so wesentlichen Einfluss auf mich, der hat mich mal gefragt: Was willst Du eigentlich sonst noch werden, also außerhalb des Theaters? Und auf mein verständnisloses Gesicht reagierend, sagte er: Kein Mensch interessiert sich nur für eine Sache, jeder hat mehrere Interessen, man muss sich nur dessen bewusst sein.“
„Jedes gute Theaterstück beginnt an der Grenze, wo in das Alltägliche etwas Unvorhergesehenes, lange Verborgenes ein-, bzw. das Gleichmaß aufbricht. Daraus kann dann eine Komödie oder eine Tragödie werden.“
Stimmt. Denken wir an die Dramen Ibsens. Oder an MORD AUF SCHLOSS HAVERSHAM, jener Slapstick-Komödie, mit der Philipp Brammer letztes Jahr hier in Kempten brillierte. Eigentlich wollen in dem Stück nur ein paar Laien ein simples Theaterstück aufführen. Aber dann geht alles schief, was nur schief gehen kann. Am Ende liegt die Bühne in Trümmern.

Die Bretter, die die Welt bedeuten.
Und jetzt also die deutschsprachige Erstaufführung von ARIZONA von Juan Carlos Rubio in der Inszenierung von Wolfgang Seidenberg mit Bühnenpartnerin Birgit Reutter, eine Kooperation des Theater Hof mit dem Theater in Kempten.
Ein kinderloses Ehepaar aus Wyoming, dem Nordwesten der USA, fährt in den äußersten Südwesten nach Arizona, um dort persönlich die Grenze der USA gegen die Mexikaner zu schützen.
Klingt ziemlich aktuell. Wurde aber von Rubio bereits vor mehreren Jahren geschrieben. Ein Prophet?
„Im Grunde geht es gar nicht um die Mexikaner, nein, es geht um das Ehepaar selbst. Und eigentlich spiegelt Rubio viel mehr die spanische Gesellschaft und Gegenwart als die USA. Und diese spanische Wirklichkeit ist der unseren sehr nahe.“
Genug Stoff für Reibungen – und für Humor, denn der sollte nie zu kurz kommen.
Das Kemptener Publikum kennt Rubio übrigens bereits von seiner Komödie HUNDERT QUADRATMETER, die vor zwei Jahren im Stadttheater zu sehen war. Und Wolfgang Seidenberg (auch ein Vielseitiger: Schauspieler, Dramaturg, Übersetzer und Regisseur) hat den in Spanien so berühmten Rubio für das deutschsprachige Theater entdeckt. Mit Kollegin Birgit Reutter (wir haben sie alle in den letzten beiden Sommern beim Märchensommer Allgäu als HUTMACHER oder ZAUBERER VON OZ bewundert) spielt Philipp Brammer auch oft in Hof am Theater.
ARIZONA. Ab 10. Oktober 2019 in der Theaterwerkstatt des T:K.